Das Internet hat unsere Welt klein gemacht, keine Frage. Die Meisten von uns treffen sich nicht mehr real und bei Kaffee und Kuchen zum gemeinsamen Nähen, sondern in Foren, Auf Blogs und in Gruppen im Social Media. Man tauscht sich aus, man verbessert, man kommentiert, kritisiert, denkt sich nichts dabei. Aber irgendwas läuft falsch, denn in regelmäßigen und kurzen Abständen erwähnt jemand, dass der Ton recht rau sei, die Kritik nicht konstruktiv oder sogar fehl am Platz.
Ich möchte hier ein paar Tipps zusammenfassen, die einem netten Umgang zuträglich sind.
1. Kommentiere nur, wenn du etwas zu sagen hast, das auch für den Empfänger deines Kommentars eine Bedeutung hat.
Viele Leute in der Nähszene wollen wirklich etwas dazulernen. Sie sind dankbar für kleine Hinweise, wie man die Passform oder die Qualität von Nähten und Nähwerken verbessern kann. Manche wollen aber nur zeigen was sie geschafft haben und empfinden deine Hilfe in diesem Moment als unangemessene Kritik. Wenn im Beitrag also steht: „Ich wollte euch nur mal zeigen was ich neues genäht habe – Bin stolz wie Oskar dass ich das geschafft habe!“ Will derjenige vielleicht garnicht wissen, dass da Falten am Ärmel sind, die dich stören. Und wenn du dich garnicht zurückhalten kannst, wie wäre es dann, statt einer Kritik oder einer Aussage wie „die Falten da am Ärmel würden mich ja stören!“ einfach eine Frage zu formulieren, wie „Sind die Falten am Ärmel im Schnittmuster vorgesehen, oder liegt das daran wie du auf dem Bild stehst?“ auch so machst du deinen Gegenüber auf das Problem aufmerksam, es klingt aber weniger nach Konfrontationskurs.
2. Bevor du etwas schreibst, überlege dir, warum du es schreibst.
Möchtest du gerade jemandem helfen ein Problem zu lösen, oder geht es dir darum zu zeigen, dass du etwas weißt, dass derjenige noch nicht bemerkt hat? Wenn du dich über dein Wissen profilieren möchtest, versuch dich daran zu erinnern, wie es in der Schule war, wenn jemand immer wieder deutlich zur Schau tragen musste, wie gut er etwas kann. Am besten etwas, das du selbst nicht so gut konntest. Wie hast du dich gefühlt wenn dir jemand, bevor er dir ein für dich schier unlösbares Problem erklären wollte gesagt hat „das ist ganz einfach!“? Richtig, meistens fühlt man sich davon genervt. Das ist im Internet nicht anders. Vielleicht fühlst du dich gerade auch davon genervt, dass ich dir sage, dass du nicht alles schreiben sollst, was du schreiben möchtest. Ich bin gerade ja auch irgendwie ein Klugscheisser, der den Finger in die Wunde legt. Trotzdem, versuch dich daran zu erinnern, und wenn du merkst, dass es gerade um dich geht und nicht um dein Gegenüber , dann schnipps nicht wild mit dem Finger und ruf „ich weiß es besser“ sondern vergiss was du gerade schreiben wolltest und scroll weiter.
3. Ist die Kritik, die du gerade äußerst wirklich konstruktiv?
Es ist bei fast jeder Kritik möglich, sie konstruktiv zu äußern. Konstruktiv bedeutet, dass man nicht nur positiv oder negativ bewertet, sondern diese Wertung direkt mit einem Verbesserungsvorschlag verknüpft. Es reicht also nicht zu sagen: „Da sind Falten am Armausschnitt, die würden mich stören“. Wenn du konstruktive Kritik äußern möchtest, solltest du mindestens dazu sagen: „Da sind am Armausschnitt noch ein paar ungünstige Falten, es könnte sein, dass du die Ärmelkugel falschherum eingenäht hast. Wenn das so ist, würde ich es nochmal auftrennen und korrigieren, dann würde es noch um einiges besser sitzen“. Ja, das ist mühsam so viel zu schreiben, ja, damit kaust du demjenigen vielleicht schon eine Lösung vor, die du selbst mühevoll erarbeiten musstest, aber wenn das dein Gefühl ist, besinn dich nochmal auf Punkt zwei, was ist deine Absicht, möchtest du helfen? Dann sollte es dir die Mühe wert sein etwas weiter ins Detail zu gehen.
4. Sei menschlich.
Vielleicht willst du jemandem wirklich weiterhelfen, erkennst das Problem, weißt aber auch nicht wie du es lösen kannst? Natürlich kann es auch helfen, jemanden auf einen Knackpunkt aufmerksam zu machen, wenn du keine Lösung liefern kannst. Nicht nur du siehst diesen Beitrag, nicht nur du bist in der Lage mitzudenken, wenn jemand um Hilfe bittet. Wenn du das Problem siehst, aber nicht weißt, was man dagegen tun kann, sei einfach menschlich. Ich nehme wieder mein Beispiel mit dem Armausschnitt: „Ich sehe, dass sich am Armausschnitt Falten bilden. Vielleicht ist das Tragegefühl deswegen nicht gut, ich weiß aber gerade nicht, wie man das verändern kann, vielleicht kann dir da noch jemand anderes weiterhelfen.“
5. Versteck deine Kritik nicht in vermeintlichen Komplimenten
Natürlich musst du nicht alles schön finden. Du musst auch nicht zu etwas, das du nicht schön findest sagen, dass es schön sei. Aber bleib ehrlich. Und vor allem: Versteck deine Kritik nicht hinter falschen Komplimenten. Ein „Ich bewundere dein Selbstbewusstsein, ich würde mich nicht trauen das zu tragen“ kann zwar tatsächlich bedeuten, dass du denjenigen für selbstbewusst hältst, und völlig ehrlich gemeint sein, es impliziert aber, dass das Tragen dieses Kleidungsstücks Selbstbewusstsein erfordert, woraus man leicht schließen kann, dass es nichts ist, das in der breiten Masse Anerkennung findet. Ich möchte hier ein Beispiel heranziehen, bei dem mir das besonders aufgefallen ist. Vor kurzem hat eine junge Frau in einer Facebook Gruppe ein Foto von sich in einem Tüllrock gezeigt. Ein Selfie, aus dem Spiegel aufgenommen, wirklich nur ein Schnapschuss. Nicht die Art Selfie für die man eine halbe Stunde übt. Unter diesem Bild häuften sich die „Wow bis du selbstbewusst“ und „Ich bewundere dein Selbstbewusstsein, für mich wäre das nichts“ Kommentare. Der Grund, der unschwer zu erkennen war, und mehrfach genannt wurde, war, dass diese junge Frau nicht rank und schlank sondern eher füllig war. Wer selbst schon einen genäht hat weiß es, Tüllröcke tragen eher auf als Kilos wegzuschummeln. Ich bewundere, dass diese Frau noch unter jedem Kommentar geantwortet hat „Danke, aber mir gefällts.“, denn selbst beim Lesen der Kommentare als Unbeteiligte, gingen diese als Kompliment versteckten Kritiken mir an die Nieren.
Wenn du also meinst, dass es für den Empfänger deines Kommentars wichtig ist, ob du findest, dass er das tragen kann, sei so ehrlich und schreib „Ich finde es nicht so vorteilhaft, weil es staucht/streckt/die Taille verschwindet“ oder etwas vergleichbares. Sag nicht „Es ist sehr selbstbewusst etwas zu tragen das so scheiße aussieht“ und überleg dir vorher, ob es für den Empfänger nicht genau danach klingt.
6. Weil du etwas nicht magst, bedeutet das nicht, das andere es nicht wirklich mögen.
Wenn ein typisches Fußbodenfoto einer Pumphose auf dem Fliesenboden mehr nette Kommentare und Likes bekommt als dein katalogreifes Tragebild, ist das, auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, kein „Sugarcoating“. Tatsächlich ist es möglich, dass in einer Community von 50000 Personen 5000 Personen dieses Bild gesehen haben und 50 es tatsächlich gut finden. 50 Likes und nette Reaktionen sind eine Menge, zumindest für mich. Das hätte ich auch gern für meine Beiträge, da bin ich ganz ehrlich. Deswegen habe ich aber kein Recht, und du hast es auch nicht, zu sagen, dass die Reaktionen auf dieses Bild unehrlich wären, weil wir selbst unsere Bilder und Umsetzung besser finden. Es wird einen Grund haben, dass den Leuten dieses Bild aufgefallen ist, und unsere nicht. Und es gibt dir kein Recht generell zu bemängeln, dass man immer nur Nettes sagen darf und nie kritisieren und die Arbeit die du in deine Werke steckst nicht wertgeschätzt würde. Wenn du das Gefühl hast, dass man nichts ehrlich kritisieren darf, solltest du dir angucken, wie du kritisierst und warum. Vielleicht liegt es an der Art, wie du dich äußerst und gibst, dass deine Kritik nicht gut angenommen wird.
7. Auch wenn du gut und konstruktiv kritisieren kannst, bedeutet das nicht, dass dein Gegenüber kritikfähig oder für deine Kritik empfänglich ist.
Ja, natürlich gibt es Leute, die keine Kritik hören oder lesen wollen und die absolut unzugänglich für deine Verbesserungsvorschläge sind. Das muss man akzeptieren können, wenn man einen Kommentar abgibt. Man darf es diskutieren, aber man muss ertragen, dass man für seine eigene (gutgemeinte) Kritik kritisiert wird. „Der hat ein Bild gepostet, dann muss er damit rechnen dass ich das doof finde und das auch sage“ gilt nicht. Du musst einfach akzeptieren, dass sich jemand an seinem Werk einen Moment lang erfreuen möchte ohne die Fehler zu sehen, einfach weil er etwas geschafft hat. Auch, dass er diese Freude teilen möchte. Für einen Anfänger kann es, auch wenn die Nähte nicht schön oder sogar unversäubert sind, ein tolles Gefühl sein, dass er aus einem Stück Stoff etwas genäht hat, durch dass er zwei Arme und einen Kopf in ungefähr der Postion hindurchstecken kann, in der die Gliedmaßen in einem Shirt angeordnet sind. Das ist nicht der passende Moment ihm zu sagen, dass er länger etwas davon hat, wenn er die Nähte versäubert. Und genau das wirst du zu spüren bekommen, wenn du es äußerst. Vergeude also nicht deine Mühe jemandem etwas beizubringen an jemanden, der gerade nicht empfänglich dafür ist zu lernen, sondern warte ab, bis er fragt, warum seine Nähte ausreißen, dann wird deine Antwort willkommen sein.
Und wenn er garnicht damit umgehen kann kritisiert zu werden? Dann ist es nicht deine Aufgabe ihn davon zu überzeugen und ihn kritikfähig zu machen. Lass ihn wie er ist und investiere deine Energie in etwas anderes, anstatt dich darüber zu ärgen.
8. Setze nichts als selbstverständlich voraus. Jeder hat ein anderes Niveau und einen anderen Wissensstand.
Große Communitys im DIY und Nähbereich kann man mit einer Schule vergleichen, in der alle Personen, vom Erstklässler bis zum Promovierten in die gleiche Klasse gehen. Du siehst es nicht jedem direkt an, auf welchem Niveau er sich befindet, aber vielleicht helfen dir die Bilder, die du kritisieren möchtest, es einzuschätzen. Wenn du also am Bild siehst, dass du im Vergleich zu deinem Gegenüber wie ein Abiturient zum Erstklässler stehst, dann hol denjenigen auch auf dem Niveau ab, auf dem du ihn einschätzt und erwarte nicht, dass er sich durch Fachvokabular und als selbstverständlich vorausgesetzte Techniken arbeitet, um deinen Kommentar zu verstehen. Wenn du ihm nur zeigen willst was du schon alles weißt, dann lies nochmal unter Punkt zwei nach. Wenn du ihn auf seinem Weg weiterbringen willst, dann teile dein Wissen. Erkläre und gib dir Mühe mit deinem Gegenüber. Wenn du darauf keine Lust hast, weil du dir auch alles selbst erarbeiten musstest, dann kommentiere einfach nicht. Es erspart euch beiden viel unnötige Frustration.
Sehr schön geschrieben! Und auch wenn all das ja eigentlich selbstverständlich ist, ist es gut, mal wieder dran erinnert zu werden!
Liebe Grüße, die Franzi
Nummer 5: every. single. time. Zumindest, wenn ich mich halbnackt mache oder was enges trage.
Was zum Geier hat MUT damit zu tun, dass ich meinen Körper akzeptiere, wie er ist, statt in Kartoffelsack und Asche zu gehen, damit keiner sieht, dass ich dick bin? Das ist kein Mut, das ist Akzeptanz für mich selbst.
Ich mag deinen Knigge :*
Ich stimme grundsätzlich zu, bis auf einen verbreiteten Irrglauben bzgl. konstruktiver Kritik:
Tatsächlich muss Kritik keine Verbesserungsvorschläge enthalten, um per definitionem als "konstruktiv" zu gelten – sie muss "nur" genau bezeichnen, was genau man als fehlerhaft empfindet.
Entsprechend wäre "Das Essen schmeckt etwas fad, der Geschmack müsste intensiver sein" konstruktiv, auch wenn man nicht angibt, wie man das Essen schmackhafter bekommen könnte – ein reines "Es schmeckt nicht" wäre hingegen unkonstruktiv.
Die von dir in Punkt 4 beschriebene Kritik wäre also auch konstruktiv.
[Ich merke das an, weil ich es unfair finde, wenn Personen vorgeworfen bekommen, sie würden nicht konstruktiv kritisieren, obwohl sie genau das tun. Was leider öfter vorkommt.]
Ich glaube auch, das Wichtigste ist, sich vor der Kritikäußerung zu fragen: Wird das der Person weiterhelfen? Würde ich mir an ihrer Stelle wünschen, dass mir das jemand sagt? Und dann die Kritik freundlich und wohlwollend zu formulieren.
Jawoll. Und wieder einmal bin ich froh, nicht bei Facebook zu sein 😉
Liebe Grüße,
Anna
Dein Beispiel mit dem Tüllrock finde ich sehr bezeichnend. Mir sind auch schon Kommentare geschrieben worden, die mich darauf aufmerksam machen wollen, dass ich in meinem Alter keine Shorts und schon gar nicht so kurze tragen sollte. Ich hatte aber gar nicht darum gebeten. Das ist das Gleiche wie "du bist aber mutig…" Nein, man trägt es, weil es einem gefällt und wer es nicht mag, kann sagen, dass er selbst das nicht tragen würde. Ich kommentiere oft selbstgemachte Kleidung, die ich für mich nie nähen würde, aber der anderen Person steht es und passt zu ihrem Stil. Dann ist das ein Lob wert. Dann erkenne ich die Leistung und Arbeit an, die in dem Genähtem steckt. Darum geht es doch. Geschmäcker sind eben verschieden. Und wenn man sich dann noch vorstellt, die Person, der man gegenüber die Kritik äußern möchte, steht einem direkt gegenüber, sollte es doch eigentlich klappen
Danke, dass Du das geschrieben hast. Ich finde es sehr hilfreich. Auch um sich selbst nochmal zu überprüfen.
Viele Grüße,
Julia
Jo. Wenn mir ein Teil einfach nicht gefällt, klicke ich weiter und gebe meinen Senf irgendwo anders ab. Bringt ja keinen weiter, wenn er weiß, dass mein Geschmack halt ein anderer ist.
Was mir schwer fällt, ist, nichts zu sagen, wenn etwas absolut nicht gut sitzt. Dabei geht es nicht um das erste selbstgenähte Kleidungsstück – neulich las ich den Beitrag einer Fashion-Bloggerin, die superstolz ihre neu gekaufte Hose präsentierte. Leider war diese Hose die schlechtestsitzende Hose, die ich je gesehen habe (und nein, das war definitiv kein Absicht.).
Da habe ich wirklich lange überlegt, ob ich was sage (man sagt Leuten ja auch Bescheid, wenn nach dem Toilettengang ihre Hose aufsteht). Nicht-Näherinnen kennen sich oft weniger gut mit Passform aus, aber hier war es wirklich extrem.
Letztendlich habe ich nichts gesagt. Die Bloggerin war so unheimlich glücklich über ihre Hose (sie mochte die Farbe), da hab ichs einfach nicht übers Herz gebracht … und hoffe einfach, dass der krasse Passform-Mangel Hobbyschneiderinnen viel mehr auffällt und sie nicht jeder insgeheim auslacht :-/
Vielleicht wäre es auch bereichernd für die Bloggerin gewesen, sich mit Passform auseinanderzusetzen, und mein Kommentar wäre hilfreich gewesen. Wer weiß.
Was ich nützlich finde, sind die drei Siebe des Sokrates (eigentlich sind es mehr Filter): Ist es wahr? (gut, das trifft ja so gut wie immer zu.) Ist es gut? Und wenn es nicht gut ist, ist es wenigstens notwendig, es zu sagen?
Manchmal kann man nur etwas nicht Gutes sagen. Und mittlerweile prüfe ich immer, ob es wirklich notwendig ist. Ob es mehr nützt als schadet.
Ich sage heute öfter nichts als früher. Ob das immer so gut ist? Es ist ja eigentlich für niemanden gut, in einer Filterblase zu leben, in der alles grundsätzlich bejubelt wird. Ohne Kritik und den Wunsch nach Verbesserung wird es keinen Fortschritt geben, nur Stillstand. Auch irgendwie traurig. Aber zugegeben, gerade auf Facebook gibt es eher zuviel als zuwenig Kritik und die, die es gibt, ist viel zu oft nicht durchdacht, sondern beleidigend.
Schön wäre es, wenn jeder sich genau darüber im Klaren wäre, was er möchte: Manche schreiben "Kritik willkommen!" und motzen dann trotzdem, wenn nicht jeder makellos findet, was sie präsentieren, andere denken erst gar nicht darüber nach und sind völlig überrascht, wenn sie auch mal auf Kritik stoßen.
Aber das ist nunmal utopisch. Und jedem Recht machen kann man's sowieso nicht.
Mag ich! Total!! Würde ich am liebsten so als Benimmregel auf meine Sidebar setzen??. Und wenn sich jemand per Mail äußert, kommen noch die Punkt "Begrüßung" und "Verabschiedung (gern mit Namen!)" dazu. ? Vielen Dank und liebe Grüße Danie